Interview

New Life 04/1997

by Thomas Elbern

 

Seit drei Monaten sind sie wieder das Thema. In Electro-Kreisen Thema Nr. 01. Niemand glaubte mehr so recht an neues Material von Depeche Mode. Gerüchte, Gerüchte und nochmals Gerüchte waren im Umlauf. Definitive Informationen und offizielle Statements gab es nicht. Urplötzlich und ohne große Ankündigung erschien die Maxi „Barrel Of A Gun“. Erleichterung, es gibt doch neuen Stoff von Depeche Mode. Viele erwarteten so etwas wie einen Urknall, die Erlösung vom musikalischen Einheitsbrei. Sicher hat die Single das größtenteils geleistet, doch kontrovers diskutiert wurde sie trotzdem. Gerade die sogenannten Hardcore-Fans konnte der außergewöhnliche Stil von „Barrel Of A Gun“ nicht ganz überzeugen. Allerdings sind die Reaktionen postiv anders als bei „Songs Of Faith And Devotion“. Dafür ist der Sound der Single auch zu extravagant. In vier Wochen erscheint das Album „Ultra“, in wenigen Tagen DMs 2. Single „It´s No Good“, welche die neue Energie von Depeche Mode offenbaren wird. Offen für alle Fragen war auch Dave Gahan, die Stimme von Depeche Mode, nie war er so gut wie heute, in einem Interview, welches Thomas Elbern für New Life führte.

 

Take 01: Popstars und Drogenabhängigkeit?

Dave Gahan: „Das ist der Irrtum, der immer gerne gemacht wird. Es sind Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten drogenabhängig. Natürlich wird um meine so ein Publicityaufwand getrieben, aber Politiker, Angestellte, die Kids von den Straßen, jede Menge Menschen gebrauchen Drogen, um ihre Gefühle zu verstecken und ihre Unzufriedenheit gegenüber dem Leben, wie sie behandelt werden, ihre Kindheit, zu maskieren. Es geht alles um Flucht.“

 

Take 02: Junkies?

DG: „Hunderte von Junkies sterben jeden Tag. Glücklicherweise, oder unglücklicherweise, je nach dem, wie man es betrachtet, mußte ich dadurch gehen, und zwar in den Augen der Öffentlichkeit. Aber ich unterscheide mich nicht von irgenteinem anderen Junkie. Die Gründe, warum man dazu wird, sind meist ein nicht vorhandenes Selbstwertgefühl.“

 

Take 03: Die Band als Grund für Drogensucht?

DG: „Ich glaube nicht, daß das alles etwas mit der Band zu tun hat. Ich wäre den gleichen Weg auch ohne die Band gegangen. Es hat mehr damit zu tun, wie man aufwächst und mit dem persönlichen Leben. Ich bin zweimal geschieden und das alles während meiner Zeit mit Depeche Mode. Außerdem habe ich einen Sohn aus erster Ehe, den ich nicht oft sehe. Damit Tag für Tag zu leben, tut sehr, sehr weh.“

 

Take 04: Die Band und das eigene Schicksal?

DG: „Die Gruppe besteht jetzt seit 17 Jahren. Manchmal akzeptieren die Leute nicht, daß wir normale Menschen mit Fehlern sind und Dinge tun, auf die wir nicht unbedingt stolz sind. Wenn man dauernd unter dieser Medienbeobachtung steht, dann hat man eine Menge Gewicht auf den Schultern. Der Versuch, immer das Richtige zu tun, ist von menschlicher Seite gar nicht möglich.“

 

Take 05: Zerstörungstendenzen?

DG: „Ich habe die Tendenz, Dinge zu zerstören, bevor sie das Gleiche mit mir tun. Nur die eine Sache, die ich nicht kaputt kriegen konnte, war meine Heroinabhängigkeit. Ich mußte akzeptieren, daß ich Hilfe brauchte. Wenn etwas um die Ecke kommt, das sich bedrohlich auf mich stürzt, dann versuche ich, schneller zu sein, bevor es mich kriegt. Heroin war das erste Ding in meinem Leben, wo ich absolut die Kontrolle verloren habe. Es kontrollierte mich und es ist etwas, das zu dir spricht, aber du kannst nicht antworten, es hat absolut mein Leben kontrolliert und so wär ich fast gestorben und mußte deshalb etwas anderes probieren. Ich bin sehr dankbar heute, weil ich jetzt seit acht Monaten clean bin und versuche, so bescheiden wie möglich zu leben. Es ist sehr schwierig, wenn du in einer Band bist, und jeder sagt dir, wie toll deine neue Platte oder deine Stimme ist, und in dir fühlst du dich total beschissen. Dieser Widerspruch ist schwierig zu ertragen. Am Ende des Tages sitze ich in meinem Hotelzimmer und versuche, meine Gefühle auf die Reihe zu bekommen. Um ehrlich zu sein, komme ich zu dem Schluß, daß ich mit einer Menge Dinge in meinem Leben aufhören muß, um rauszukriegen, was ich wirklich will. Vielleicht sollte ich in ein buddhistisches Kloster gehen und ein Schweigegelübde ablegen.“

 

Take 06: Der Einfluß von Ultra auf Dave´s Drogenabhängigkeit?

DG: „Das Album hat meine Besserung beschleunigt. Zuerst war ich sehr ängstlich, weil ich nicht wußte, ob ich die Drogen lassen soll. Wenn du diese Entscheidung nicht triffst, brauchst du nirgentwo mehr hinzugehen. Das gilt für alle Abhängigen, ob sie in einer Band sind oder nicht. Das ist etwas, was ich akzeptieren mußte. Es ist leicht für mich, wieder in diesen Zustand zurückzufallen. Es gab Momente, da war ich noch nicht einmal in der Lage, das Telefon zu nehmen und nach Hilfe zu fragen. Es ist mehrmals vorgekommen, daß dann jemand kam und mir half, und ich danach wieder rückfällig wurde. Das hat dieses Scham- und Schuldgefühl ausgelöst, das total übermächtig wurde. Es fühlte sich so an, als wäre die Welt ein besserer Ort, wenn ich nicht existieren würde. Das war der üble Teil der Abgängigkeit, die mich beeinflußte und gewann. Die Wahrheit ist, daß es in deinem Leben zu einem Punkt kommt, wo du stirbst oder clean wirst. Ich bin jetzt 35 und wenn Gott Drogen und Alkohol unter´s Volk bringt, lange ich nicht mehr zu.“

 

Take 07: Die Geschichte von Ultra?

DG: „Wir kamen vor vierzehn Monaten zusammen, Martin hatte einige Songs geschrieben. Wir waren noch von der ´Songs Of Faith And Devotion´-Tour mental und physisch total zerstört. Danach ließen wir ein Jahr vergehen und fingen dann wieder an zu arbeiten. Wir waren alle total ängstlich, wieder das gleiche durchzumachen. Dennoch hatten wir genügend Enthusiasmus, schließlich hatte Alan die Band verlassen, was auch einen großen Unterschied machte. Er hat sich immer um die musikalischen Belange gekümmert und war so nicht einfach zu ersetzen. Wir brauchten also ein Team, das unsere musikalischen Vorstellungen in die Tat umsetzen konnte. Also haben wir mit Tim Simenon gearbeitet, der mit einem festen Team arbeitet. Er hat einen Keyboardplayer, einen Programmierer und einen Tontechniker, die zu seinem festen Stamm gehören. Außerdem holte er Musiker wie Doug Whimbish, Gota, den Drummer von Soul 2 Soul, und B.J. Cole mit seiner Steel Guitar. Außerdem haben wir mit echten Streichern gearbeitet, Jackie Liebezeit von Can, Victor Andrioca spielte Drums auf ´It´s No Good´ und ´Barrel Of A Gun´. Wir haben die Türen geöffnet für andere Musiker und waren offen, anstatt zu befürchten, daß sie unseren Sound verändern.“

 

Take 08: Neues Album, Techno Album?

DG: “Auf der einen Seite wurde es von uns fast erwartet, ein sehr hartes Techno-Album aufzunehmen. Ich mag Techno, aber wir haben nie versucht, einem bestimmten Trend zu folgen. Das wäre falsch. Wenn Depeche Mode heute ein Drum´n Bass-Album aufgenomen hätten, wäre das nicht richtig. Wir haben immer das getan, was wir wollten und schon früh unsere eigene Nische gefunden. Ich denke, es ist toll, daß wir die Freiheit erreicht haben, zu experimentieren wie wir wollen, und daß sich die Fans dafür interessieren und das mögen, was wir tun.“

 

Take 09: Ist Ultra das letzte Album?

DG: „Soweit planen wir gar nicht vor. Ich glaube, daß ist bei meinem persönlichen Zustand eh nicht möglich. Ich würde lieber eine Platte wie ´Ultra´ fertigmachen, stolz darauf sein und mich verabschieden, als immer wieder neu in Erscheinung zu treten, nur um präsent zu sein. Depeche Mode ist, was es is; Martins Songs und meine Stimme. Ich weiß nicht, wie ich mich in sechs Monaten oder einem Jahr fühle, also kann ich diese Frage nicht ehrlich beantworten.“

 

Take 10: Band gleich Familie?

DG: „Ich glaube, wenn man so lange in einer Band ist, dann lebt man zusammen und macht sich zwangläufig auch Gedanken über die anderen. Es ist wie eine nicht funktionierende Familie. Viele Songs, die Martin geschrieben hat, und die ich gut interpretieren konnte, haben mir geholfen, mich selbst aus einer anderen Perspektive zu sehen. Als ich anfing, mein eigenes Gefühl in den Songs zu akzeptieren, habe ich verstanden, was ich mit mir angestellt haben: Mich selbst mit Scham und Schuldgefühlen zu zerstören. Ein Gefühl, nirgentwo mehr hinzugehören.“

 

Take 11: Warum hat Alan Wilder die Band verlassen?

DG: „Ich glaube, er entschied sich schon während der letzten Tour, und vielleicht schon bei den Aufnahmen zu ´Songs Of Faith And Devotion´, daß er genug hat. Er wollte herausfinden, was er eigentlich machen wollte, er wollte ein Kind, hatte eine ziemlich üble Scheidung, die sich über Jahre hinzog. Es ist ein großes Kunststück, sein eigenes persönliches Leben und das Leben in der Band auf die Reihe zu kriegen.“

 

Take 12: Familie und Band?

DG: „Es ist so, als würde man dauernd zwischen zwei Familien hin und her jonglieren, eine Art Kriegssituation: Kaum bist du zu Hause, möchtest du bei der Band sein, kaum bist du bei der Band, möchtest du zu Hause sein. Das auszubalancieren ist eines der schwierigsten Dinge überhaupt. Mal davon abgesehen, was Depeche Mode mittlerweile erreicht hat, kommt der Punkt, wo ich einfach Pause machen muß.“

 

Take 13: Dave´s Wichtigkeit als Sänger von Depeche Mode?

DG: „Mein Part in der Gruppe ist manchmal ein wenig überwältigend. Während der letzten Tour ist Fletch ausgestiegen, weil er nur noch krank war. Das gleiche, während wir die letzten Platten aufgenommen haben, da blieb er einfach zu Hause. Das könnte ich nicht machen. Ich kann nicht einfach sagen, ich steige aus, nehmt einen anderen Sänger. Es liegt eine Menge Verantwortung auf meinen Schultern.“

 

Take 14: Ist eine Tour geplant?

DG: „Wir haben im Moment keine Tour geplant. In erster Linie deswegen, weil die letzte Tour völlig außer Kontrolle geraten ist. Nicht nur ich, sondern auch die anderen aus der Gruppe waren vollkommen ausgebrannt: Fletch hat die letzten vier Monate gar nicht mehr mitgemacht. Alan ist nach der Tour ausgestiegen und Martin  war mental und physisch total am Ende. Es hat ganz klar seine Spuren hinterlassen. Ich würde nicht sagen, daß wir in Zukunft nicht mehr touren, weil mir das eigentlich ziemlich Spaß macht. Da fühle ich mich richtig wohl: Auf der Bühne hinter meinem Mikrophon mit dem Feedback vom Publikum – Die spirituelle Atmosphäre gibt mir ein Selbstwertgefühl, das aber leider nicht anhält. Das ist das Problem. Man kommt danach nicht mehr so hoch, wie in dem Moment, da man auf der Bühne steht. Die ganze Zeit in dieser Welt zu leben, ist eh total verrückt. Die größte Herausforderung in meinem Leben zur Zeit ist, zu akzeptieren, wer ich bin, und mir mit meinen Aktivitäten zu beweisen, daß ich positive Energie entwickeln kann und nicht nur diese Destruktivität.“

 

Take 15: Die frühen Anfänge?

DG: „Ich kann mich erinnern, wir waren Teenager und hatten keine großen Ideen. Wir wollten einfach spielen und im Club auftreten. Es gab keine großen Erwartungen dahinter. Nun läuft diese Riesenmaschine mit Depeche Mode. Die Zahnräder laufen wieder, weil Depeche Mode eine neue Platte herausbringt. Es ist überwältigend und gleichzeitig lächerlich.“

 

Take 16: Drastischer Stilwechsel mit ´Songs Of Faith And Devotion´?

DG: „Die Songs waren anders, rockiger. Wir gehen nicht ins Studio mit einer speziellen Idee, wie das Album klingen soll. Es hängt eher von den Songs ab. Die Instrumentierung ist zweitrangig. Wir verwenden alles, was der Atmosphäre gut tut. ´Songs Of Faith And Devotion´ war so eine Art ´Schlag ins Gesicht´-Platte. ´Ultra´ ist eher unsere Weiterentwicklung von ´Violator´.“

 

Take 17: Arbeitsweise im Studio?

DG: „Ich glaube das wichtige von Depeche Mode sind in erster Linie die Songs von Martin und meine Stimme. Das kreiert diese Atmosphäre, der du nicht entrinnen kannst. Wir haben immer schon die Songs in verschiedene musikalische Richtungen interpretiert. Wir möchten uns nicht auf einen Stil festlegen. Wir nehmen jeden Song und bauen eine Atmosphäre darum herum. Wir gingen bei ´Ultra´ ins Studio mit einigen Songs, nicht um eine Platte aufzunehmen, sondern um zu sehen, wie es sich anfühlt, wieder zusammenzuarbeiten. Das funktionierte gut und dann kam meine große Krise, die durch das Drogenproblem entstand und den absoluten Vorrang hatte. Hätte ich diese nicht überwunden, wäre aus der Platte auch nichts geworden.“

 

Take 19: Musik als Therapie?

DG: „Wir machen immer noch Musik. Es wird nicht die Welt verändern, aber hoffentlich wird es einigen Freude und Glück bringen. Es ist für mich wie eine Art Therapie: Die Arbeit im Studio, in die ich mich selbst stark einbringe und dann Andere, die daraus eine Menge schöpfen, das ist wie eine Art Belohnung. Es ist zu verwirrend, das alles verstehen zu wollen.“

 

Take 20: Musik gleich Heiler?

DG: „Musik ist eine heilende Kraft. Je nachdem, in welcher Stimmung ich bin, wenn ich morgens aufwache, kann ich diese Stimmung beibehalten oder diese verändern, je nachdem, welche Platte ich gerade auflege. Manchmal höre ich mir Billy Holliday an, weil ich mich so fühle. Ich kann aber auch gleichzeitig Nirvana hören, diese Traurigkeit und Angst, die von der Drogenabhängigkeit kommt. Es ist, als würde man zwei Personen gleichzeitig sein, von der keine Deine eigene ist, sondern von der Droge kontrolliert wird, die du gerade nimmst.“

 

Take 21: Die weltweite Fangemeinschaft?

DG: „Ich glaube, daß das, was wir tun, sehr ehrlich ist und das Leben in Musik und Text reflektiert. Offensichtlich gibt es eine Menge Leute auf der Welt, die das mögen. Ich glaube, daß wir den Leuten Hoffnung geben. Es ist schon fast wie eine Religion an sich. Eine Art Lebensstil für die Fans, die uns folgen.“

 

Take 22: Stellung von Depeche Mode in Deutschland?

DG: „Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich die Antwort nicht weiß. Wir sind nicht hier, um Antworten auf alle Fragen zu haben. Wir haben sicher einen Stellenwert hier und scheinen den Leuten eine Menge Freude zu bereiten. Das ist gut so, aber wenn man mehr darüber nachdenkt, warum das so ist, verliert man den Weg.“

 

Take 23: Art School?

DG: „Ich habe Ambitionen, wieder zur Schule zu gehen – zur Kunsthochschule. Ich würde gerne Schauspielunterricht in New York nehmen, wo ich jetzt lebe. Ich würde gerne wieder in einen Lernprozeß hineinkommen, als alles so weiterlaufen zu lassen, wie bisher.“

 

Take 24: Persönliches Ziel erreicht?

DG: „Ich habe mein persönliches Ziel noch nicht erreicht. Depeche Mode ist nur ein Teil meines Lebens, es ist nicht alles. Dafür ist es viel zu destruktiv. Ich habe mir selbst gegenüber viel mehr Verantwortung. Es ist viel wichtiger für mich, im Moment mehr Kontrolle über mein Leben zurückzugewinnen und gesund zu bleiben, als Depeche Mode weiterzumachen. Wenn ich nicht gesund bin, wieder süchtig werde und sterbe, gibt es eh kein Depeche Mode mehr.“

 

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