Dead Man Talking

Orkus, 04/1997

by Keith Cameron

Übersetzung: Claus Kullak, Jeff Stuart, Bettina Glas

 

Part I

 

David Gahan der Sänger des 80er Pop-Phänomens Depeche Mode ist gestorben... Aber nicht für lange. Im letzten Mai war Super-Dave für zwei Minuten nicht mehr unter uns – „speedballed“ zu einem dunkleren Ort. Nicht, daß es jemanden überrascht hätte, bei seiner jahrelangen Drogenabhängigkeit.

Keith Cameron hörte sich eine der schrecklichsten Rockgeschichten an.

 

In einem der oberen Warteräume der Abbey Road Studios starrt ein Mann, der sich am Rande eines schwarzen, großen Sofas niedergelassen hat, auf die Videobilder des Fernsehbildschirms. Der Film, der aus der Vogelperspektive aufgenommen wurde, zeigt einen im Bett zitternden Mann. Die Farben sind knallig, unwirklich.

 

Der Mann auf dem Sofa beginnt seinen Kopf zu drehen und seinen Oberkörper im Takt der Musik vor und zurück zu bewegen – ominöse Electrobeats, die einen Fluß aufdringlichen, synthetischen Lärms zu stillen versuchen. Eine Männerstimme übertönt den Lärm. Sein Gesang entspricht der Bewegung des Mannes auf dem Bett. „This twisted, tortured mess, this bed of sinfulness is longing for some rest and feeling numb…“ Der Mann auf dem Sofa zündet sich eine Zigarette an und singt weiter. Die Bilder auf dem Bildschirm erscheinen wie eine Szene aus einem Alptraum.

„A vicious appetite visits me each night and won´t be satisfied, won´t be denied...”

Der Mann auf dem Bildschirm bewegt die Lippen zum Text des Liedes. Der Mann auf dem Sofa zeigt sein Einverständnis, indem er nickt. Der Mann auf dem Bildschirm und der Mann, der singt und der Mann auf dem Sofa sind Dave Gahan, 34 Jahre alt, Vater von Jack, Ex-Mann von Joanne und Teresa, Sänger von Depeche Mode und immer noch ein lebendiges Mitglied der menschlichen Rasse, der schon für vieles bezahlt hat.

Das Video „Barrel Of A Gun“, der neuen Depeche Mode Single, endet.

 

Hast du Trainspotting gesehen, Dave?

„Ein paarmal, als ich stoned war und als ich nüchtern war.“ Dave Gahan lacht herzlich und nimmt einen Schluck des Abbey Roads Premium Cappuccino. „Ich habe ihn kürzlich gesehen, und ich fand ihn nüchtern ziemlich lustig. Ich fand die ganzen Drogenszenen sehr aufregend. Ich dachte, das ist ein großartiger Film.

Es wird alles zu real, als Renton im Teppich verschwindet und Mother Superior ihn rauszieht. Ich meine, ich habe das auch schon mir und anderen Leuten angetan. Das ist das Leben eines Junkies. Wenn die Leute um dich herum sterben, schmeißt du sie einfach raus. Deine Gefühle sind so am Arsch. Als ich den Film das erste Mal sah, bin ich sofort rausgegangen und habe mich zugedröhnt. Ich war mit meinem Freund und Manager Jonathan unterwegs, habe versucht clean zubleiben, ging raus und tat genau das Gegenteil. Dieses Mal habe ich den Film in einem anderen Licht gesehen. Es ist ein Hirngespinnst. Es hält nicht an.“

Eine viertel Meile von Abbey Road entfernt, essen Andy Fletcher und Martin Gore in dem Restaurant, das Fletcher zusammen mit seiner Frau besitzt, zu Mittag. Seit ungefähr einer Stunde diskutieren sie darüber, wie Depeche Mode es zusammen mit dem Produzenten Tim Simenon schaffen konnte, ihr neues Album in einem Zeitraum zu machen, in dem ihr Sänger häufig eine Überdosis hatte, versuchte Selbstmord zu begehen, einen Herzinfarkt hatte, verhaftet wurde und schließlich entscheidende Schritte unternahm, seine Heroinsucht loszuwerden, die sein Leben regiert hatte, und die Existenz der Band über fünf Jahre hinweg größtenteils durchdrungen hatte.

„Es wurde alles in London gemacht,“ sagt Andy forsch, „begonnen haben wir im September 1995, dann hatten wir im Frühling 6 Wochen Zeit in New York und nach Daves…Ding ist Tim nach L.A. geflogen um Daves Gesang aufzunehmen. Danach sind wir zurückgekommen und haben alles fertiggemacht.“

Martin Gore lacht laut. „Das ist die beste Beschreibung die ich über Daves ´Ding´ gehört habe…“

Dave´s „Ding“ war in der letzten Zeit immer irgentwie da, aber es wurde nicht darüber geredet, bis es so extrem war, das sogar Depeche Mode es nicht mehr ignorieren konnte. Es wurde erst durch Dave´s Überdosis von Heroin und Kokain „speedball“ letzten Sommer allen klar, wie ernst es war. Vor einem Jahr, als er mit aufgeschnittenen Pulsadern ins Cedars Sinai Medical Centre von Los Angeles eingeliefert wurde, lautete das offizielle Statement, das es kein Selbstmordversuch gewesen wäre, sondern ein Unfall während einer Party bei ihm zu Hause. Kurz danach tauchte ein Foto von Dave auf, auf dem er seine Arme zeigt und keine Narben zu sehen sind.

Heute will Dave diese Geschehnisse nicht mehr vertuschen. Als die Aufnahmen zur CD beendet werden, nimmt er nichts Stärkeres zu sich als Kaffee und Malboro Mediums und redet viel darüber, wie tief er gesunken war. Es ist in der Woche vor Weihnachten und er ist seit sechseinhalb Monaten clean. „Es hilft, wenn ich darüber reden kann. Könnte ich es nicht, wäre es so, als wäre es gar nicht passiert und das wäre zu gefährlich. Aber ich will nicht wie ein Prediger erscheinen, nur weil ich jetzt clean bin. Solche Leute kotzen mich an, die tauschen eine Abhängigkeit mit einer anderen. Das Einzige, was ich anderen geben möchte, ist die Hoffnung, daß sie ihr Leben auch ändern können, daß sie clean werden können, sie müssen es nur wollen!“

Für David Gahan ist es so einfach: vor sechseinhalb Monaten wollte er es einfach noch nicht wirklich ändern. Seine Geschichte ist voller mißglückter Versuche von den Drogen loszukommen und voller ungehörter Hilferufe an einen immer kleiner werdenden Kreis von Freunden. Amanda de Cadenet ist eine Person der er für ihre Hilfe dankt, diesen großen Schritt zu tun, clean zu werden, kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, in das er wegen einer Anklage wegen Drogenbesitzes gekommen war.

Gahan kehrte in das Sunset Marquis Hotel, den Lieblingsort für seine Phasen verantwortungslosen Drogenkonsums, zurück. Trotz der Tatsache, daß sein Herz als Folge seiner letzten  Überdosis für zwei Minuten zu schlagen aufgehört hatte, sah er immer noch keine Alternative. Bei einer Diskussion mit seinem Manager machte Dave einen nicht vertrauenswürdigen Dealer aus der Innenstadt für dieses Unglück verantwortlich, wäre sein üblicher Beverly Hills Dealer aufzufinden gewesen, wäre es nie so weit gekommen.

„Ich kam aus dem Gefängnis und war sofort wieder drin“, sagt er, „Ich kann mich daran erinnern, als Amanda mich im Marquis besuchte. Ihr Gesicht sagte schon alles. Sie merkte, daß ich mich wieder auf diesem trip befand, und ich sah die Tränen in ihren Augen. Also ging ich nach Hause und setzte mich auf die Couch, wo ich mir wieder eine Spritze setzte, aber es funktionierte nicht, es nahm nicht mehr dieses Gefühl weg, das ich in mir hatte, und das tat es schon seit längerer Zeit nicht mehr, das wurde wirklich offensichtlich.“

Verzweifelt rief er seine Freundin in New York an, die ebenfalls eine ehemalige Userin ist. Auch sie war verzweifelt und sagte ihm, daß sie keinen Junkie in ihrer Nähe ertragen könnte.

„Ich konnte es den Leuten nicht mehr antun. Ich wollte nicht, daß mein Sohn aufwächst und sich fragt, warum sein Vater tot ist, warum er sich das angetan hat. Also griff ich zum Telefon – zum ersten Mal in all den Jahren in denen ich bei Drogenentzugsprogrammen war – griff ich zum Telefon und sagte ´Ich brauche Hilfe, was soll ich tun?´“

 

Das hat nichts mit der Tatsache zu tun, das die Alternative zu seinem Drogenkonsum keine Wunder an seinem Äußeren vollbrachte, Gahan sieht clean gut aus. Er hält sich aufrecht mit einer gewissen Menge an Selbstsicherheit, und seine Augen sind klare, stechende, braungrüne Punkte. Da findet sich ein lockerer, unterschwelliger, sarkastischer Humor. Als er bemerkt, daß die Hand seiner Promoterin auf Grund eines unglücklichen Küchenunfalls mit einer heißen Soße, bandagiert ist, schlägt er ihr einige Betäubungsmittel vor, die sie verwenden könnte.

„Alles, was du über amerikanische Betäubungsmittel wissen willst, kannst du mich fragen, ich habe sie alle probiert.“

Aber natürlich ist es seine Bekanntschaft mit diesen Betäubungsmitteln, die den Kern von Daves Ding ausmacht. Seine Arme tragen die Narben von jahrelangem intravenösem Drogenmißbrauch. Was als kleine Spielerei zur Erholung auf der 90-91er ´Violator´-Tour anfing, nahm drastisch zu, nachdem er seine erste Frau Joanne verlassen hatte, um mit Teresa Conway, einer Publizistin die für Depeche Mode in den USA gearbeitet hatte und die er 92 heiratete, in Los Angeles zu leben. Als die Band sich in diesem Jahr in Spanien daran machte, das „Songs Of Faith And Devotion“-Album aufzunehmen, war Gahan psychisch und physisch ein anderer Mensch. Vielmehr war er ein geladener Mensch – verärgert durch das den Depechies nachhängende Image einer kindischen Synthie Pop-Band, deren Streben nach Gewicht zu gering war, um ernstgenommen zu werden, hatte er beschlossen die ultimative Inkarnation des Rock´n Roll zu werden.

„Ich habe in der Tat gedacht: ´Es gibt keine verdammten Rockstars mehr. Niemand ist mehr bereit, den ganzen Weg dorthin zu gehen. Was wird also gebraucht? Was fehlt hier? Was fehlt mir? Es ist eine Sache, die Songs zu singen, aber wer meint es schon wirklich so?´ Also habe ich ein Monster kreiert. Dabei habe ich den Fehler gemacht, zu denken, es auch so zu meinen, würde bedeuten, daß du dich selbst in die tiefste Hölle bringen mußt. So habe ich meinen Körper durch den Schlamm gezogen, nur um zu beweisen, daß ich es tun kann.“

Es ist nicht erstaunlich, daß Gahans dionysische Haltung ihre natürliche Umgebung fand, nachdem Depeche Mode erst einmal auf die immense 14-monatige ´Devotional´-Tour aufgebrochen war.

Unterstützt von einer Armee persönlicher Helfer, Drogenärzten und allzeit bereiter Strohmänner, zwang Dave Gahan seinen zunehmend unwilligen Körper sich den Anforderungen seines Egos anzupassen. „Es war mir zu dieser Zeit nicht wirklich klar, aber ich war zu einem vollkommenen Klischee meiner selbst verkommen. Ich kann mich erinnern, als ich in Chile die Nachricht erhielt, daß sich Kurt Cobain den Kopf weggeschossen hat; meine erste Reaktion war, daß ich total sauer wurde. Ich war konsterniert. Ich hatte das Gefühl, er hätte meine Idee gestohlen, als wäre er schneller gewesen. So abgefuckt war ich damals, so weit bin ich wirklich gegangen.“

Die Tour zog sich durch den Sommer 1994 hin. Dave Gahans Grund, sich von Tag zu Tag wie ein Gott aufzuspielen war verschwunden, nicht aber seine Heroinabhängigkeit. Etwa um Weihnachten in diesem Jahr hatte er sich entschlossen in eine Rehabilitation zu gehen. Er ging freiwillig in eine Klinik, blieb dort sechs Wochen und wurde clean. Als er entlassen wurde, traf er sich mit seiner Frau. Bei einem Essen erzählte er ihr, daß er clean bleiben wolle.

„Dabei wurde mir plötzlich klar - ´Ich rede hier über den Rest meines Lebens.´ Also dauerte es natürlich nicht lange, bis ich wieder anfing, Drogen zu nehmen, allerdings heimlich. Langsam wurde sie es aber müde, mich vom Boden aufzuheben und entschloß sich, sich scheiden zu lassen.“

Das Scheitern seiner zweiten Ehe wirkt entschiedend auf Gahans späteren, rasanten Abstieg ein. Jeder Versuch, clean zu werden, hatte einen zunehmend intensiver werdenden Rückfall zur Folge. Wenn er alleine war, zu Hause oder im Sunset Marquis, demonstrierte er sich selbst, wie unglücklich er war.

„Vertrauensfragen haben mich mein ganzes Leben lang begleitet; als Teresa mich verlassen hat, bekam ich dadurch die Entschuldigung dafür, daß ich weggegangen bin und noch abgefuckter wurde. Ich war so darauf fixiert, das voll durchzuziehen. Meine Frau hatte mich verlassen, meine Freunde verschwanden, und so war ich nur noch von einer Bande Junkies umgeben. Ich habe genau gewußt, was abging – weißt du, ich hatte Geld, ich hatte Drogen, deshalb waren sie da. Ich habe es gewußt, und das schürte meinen Ärger.“

Er ging immer noch in Kliniken, und immer noch verließ er sie und ging ins Marquis.

„Ich wußte nicht, ob ich clean werden wollte. Aber es war klar, daß die Party bald vorüber sein würde. Entweder ich würde sterben, oder ich würde versuchen endgültig clean zu werden.“

Im August 1995 versuchte Gahan letzteres, bevor er sich für ersteres entschied. Als er aus der Reha kam, entdeckte er, daß sein Haus ausgeraubt worden war. Alles war verschwunden: die Fernseher, das Studio, die zwei Harley Davidsons, sogar das Besteck. Als die Einbrecher wieder gegangen waren, hatten sie den Code der Alarmanlage wieder eingegeben. Da die einzigen Personen, die den Code wußten, er selbst, einige enge Freunde und ein paar Handwerker waren, schloß Gahan, daß dies eine interne Angelegenheit war und seine ´Freunde´ sich damit dafür rächen wollten, daß er versuchte, clean zu werden.

„Es war alles vollkommen erschreckend, genauso wie dieser ganze L.A.-Film, in dem ich mich befand. Ich dachte: ´Ich bin nicht dazu gezwungen, verdammt noch mal hier zu sein. Und vielleicht kann ja jeder andere sein Leben meistern, wenn ich nicht da bin.“

Er ging zum Marquis und rief seine Mutter an, um ihr zu sagen, daß er soeben aus der Rehabilitation komme. Seine Mutter aber sagte, man hätte ihr erst kürzlich mitgeteilt, er sei niemals in einer Reha gewesen. Die Tatsache, daß ihm nicht einmal seine Mutter Glauben schenkte, war die letzte Entschuldigung, die Gahan benötigt hatte, um seine bis da hin dramatischste und künstlerischste Aussage durchzuführen. Er schloß die Türen ab, ging in ein Badezimmer und schnitt sich die Pulsadern auf „wobei ich wußte, daß am Ende irgend jemand kommen würde.“….

 

 

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