Depeche Mode werden dieses Jahr nicht auf Tour gehen

Noize, 06/1997

by Liz Rich

 

Während der letzten Tour von Depeche Mode sah es so aus, als ob für die Band alles vorbei sei. Songwriter Martin Gore hatte einen Anfall, Keyboarder Andy Fletcher einen Nervenzusammenbruch und Alan Wilder verließ die Band. Hinter all dem stand die Heroinabhängigkeit von Dave Gahan.

 

Die Vorliebe des Leadsängers für Drogenexzesse machte die Band fast kaputt, so wie sie ihn fast kaputt gemacht hätte. Nach Jahren der Heroinabhängigkeit, Aufenthalten in Rehabilitationskliniken, einigen Überdosen und einem Selbstmordversuch, war der 34 jährige Sänger zwei Minuten lang tot. Er verließ seine erste Frau Joanne und seinen Sohn Jack, um diesem von Drogen angetriebenen Rock-Lebensstil nachzugehen. Er zog nach Los Angeles und heiratete Teresa Conway, die ebenfalls Drogen nahm. Diese Ehe scheitert später.

Dave Gahan ist jetzt clean und Depeche Mode sind wieder da, mit ihrem neunten Studioalbum ´Ultra´. Gahan erklärt Liz Rich, wie es war, all diese Erfahrungen durchzumachen und wie er es geschafft hat, das alles zu überstehen.

 

F – Auf eurer letzten Tour glitt euch die Sache aus der Hand. Warum?

 

„Diese Tour hätte uns beinahe alle kaputt gemacht. Das Klischee stimmt, nach tatsächlich jeder Show gibt es eine Party. Wo man auch ist, laden die Leute einen ein, auszugehen, zu trinken und Drogen zu nehmen. Wie hätte ich denn sagen können: ´Hey, ich will früh ins Bett gehen!´, ohne unhöflich zu sein? Innerhalb der Band war es auch hart. Die Hälfte der Probleme, die wir auf der Faith and Devotion Tour hatten, waren einfach nur Kommunikationsschwierigkeiten. Wir waren tatsächlich nicht fähig, einander ins Gesicht zu sehen und zu sagen, hey, ich mag das alles nicht. Keiner von uns konnte darüber sprechen, wie er sich fühlte, und alle Fragen mußten über unseren Manager gestellt werden. Wir fuhren sogar getrennt zur Tour.“

 

F – Habt ihr dann über eine Auflösung der Band gesprochen?

 

„Ja, als Alan gehen wollte, waren wir nicht sicher, was passieren sollte. Wir wollten Alan nicht durch jemand anderen ersetzen. Alan war eigentlich nicht zu ersetzen. Dies bewirkte allerdings, daß wir um so härter arbeiteten, um ´Ultra´ fertigzustellen. Am Anfang waren wir noch nicht mal sicher, ob wir das schaffen würden. Wir haben uns mit dem Plattenproduzenten Tim Simenon und seinem Team zusammengesetzt, und das Album begann, Gestalt anzunehmen. Jedoch gingen wir mit der Vorstellung an die Sache heran, daß wir nur ein paar Songs aufnehmen wollten, nicht daß wir ein Album machten. Und wir haben uns sehr bald entschlossen, daß wir dieses Jahr nicht auf Tour gehen wollten.“

 

F – Fürchtest du einen Rückfall in alte Drogengewohnheiten, wenn ihr zu früh auf Tour geht?

 

„Vielleicht. Ich habe einfach das Gefühl, daß dies in meiner momentanen Lebenssituation nicht das ist, was ich jetzt tun sollte. Wir sind alle ein bißchen älter geworden, und Fletch und ich, wir haben Familie, Kinder. Dieser Teil unseres Lebens muß in dieser Phase einfach den Vorrang haben. Plötzlich haben wir nun viel mehr Verantwortung. Wir sind nicht mehr 25, wenn man einfach ausgeht und sich um nichts kümmern braucht, und wenn die einzige Person, der man eine Antwort schuldig ist, die eigene Mutter ist. Jetzt ist die Situation anders. Plötzlich befindest du dich in der Position eines Erwachsenen, statt in der eines Kindes im Körper eines Erwachsenen. Damit muß ich erst noch fertig werden.“

 

F – Warum habt ihr damals die Tour nicht abgebrochen, als sie euch beinahe kaputt gemacht hätte?

 

„Fletch ist am Ende abgesprungen, und rückblickend hätten wir alle den Mut haben sollen, zu sagen: ´Seht mal, dies wird uns alles viel zu viel´. Viele Konzerte waren jedoch bereits ausverkauft. Verpflichtungen mußten erfüllt werden, und als Frontmann und Sänger konnte ich nicht einfach gehen. Ich wollte nicht derjenige sein, der verantwortlich ist, der sagt, ich bin jetzt raus aus der Sache, ich gehe und 120 Leute bleiben ohne Arbeit zurück. Doch in den letzten vier Monaten war es so, als ob wir mit einem Bein im Sarg gestanden wären, was unsere psychische Verfassung angeht.“

 

F – Wie haben die anderen in der Band auf deine Sucht reagiert?

 

„Ich hatte das Gefühl, ich müsse zu meiner Verteidigung eine Wand aufbauen, durch die niemand zu mir durchdringen konnte. Und ich konnte auch nicht raus. Martin und Fletch hätten nichts tun können. Aufgrund des Versagens in meiner Beziehung, der Unfähigkeit zu lieben, des Verlangens danach, geliebt zu werden, und selbst fähig zu sein, jemanden zu lieben, mißachte ich mich selbst ein wenig. Man sagt ja immer, daß man sich zunächst mal selbst lieben muß. Diese Auffassung klingt für mich ziemlich fremd, denn im Laufe der Jahre habe ich zunehmend immer weniger für mich selbst empfunden. Dies beginnt sich nun wieder umzukehren.“

 

F – Die meisten der Texte auf ´Ultra´ scheinen sich an dich zu richten, wie wenn Martin dir etwas sagen wollte, das aber nicht fertig brachte.

 

„Genau. Bei vielen Songs habe ich das Gefühl, ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Die Ausarbeitung der Texte half mir dabei, so ziemlich meinen eigenen Charakter zu erkennen. Der Trugschluß ist ja, wenn man materielle Güter bekommt, müsse einem das Erfüllung geben: Du hast Geld, also solltest du glücklich sein. Aber bei mir persönlich funktioniert das nicht. Früher, als ich jünger war, ging ich mir ein teures Auto kaufen, hab mir schnell einen Schuß gesetzt und mich für einige Zeit sehr wichtig gefühlt. Doch das ist falsch.“

 

F – Wann ist dir bewußt geworden, daß du ein ernstes Drogenproblem hattest?

 

„Du beginnst das, was du dir da antust, in Frage zu stellen, wenn dein Drogendealer dir keinen Stoff mehr gibt, und sagt, daß du Hilfe brauchst. Wenn diese Leute, die ganz unten stehen, anfangen zu dir zu sagen, ´Ich kann dir diese Drogen nicht geben, Mann, du wirst sonst daran sterben´, dann weißt du, daß du ein echtes Problem hast. Ich habe diese abwärts gerichtete Spirale, in der ich mich befand, völlig geleugnet. Ich hatte immer das Gefühl, daß ich mich zu jeder Zeit dem entziehen konnte. Bis sich dies ganz offensichtlich änderte, als ich vor etwa drei Jahren versuchte, tatsächlich aufzuhören. Mir wurde bewußt, was für ein Kampf das sein würde, die Entscheidung zu fällen, von nun an clean und nüchtern zu sein. Kein Alkohohl, keine Drogen, nichts. Ich hatte diese Drugs für den größten Teil meines Lebens als Krücke benutzt. Seit ich ein Teenager war. Wenn sie dir plötzlich weggenommen werden, fühlst du dich für einige Zeit etwas wacklig. Ich hoffe, daß ich mich schließlich im Laufe der Zeit viel sicherer fühlen werde. Doch es ist sehr schwer. Ich bin nicht vollkommen. Manchmal ist es schwer zu akzeptieren, daß ich es nicht völlig schaffe. Ich kann mir nicht ein Glas Wein nehmen und es dann einfach beiseite stellen. Damit muß ich noch jeden Tag kämpfen.“

 

F – Wie hast du es schließlich geschafft, clean zu bleiben?

 

„Nach New York ging ich zurück nach Los Angeles und ordnete meinen Tagesablauf. Ich arbeitete jeden Tag vier Stunden mit einem Gesangslehrer. Jeden Tag ging ich in die Sporthalle. Ich joggte, machte Yoga. Auf einmal fing ich an, wieder eine Struktur in mein Leben zu bringen. Es ist schwer zu verstehen, doch in den letzten paar Jahren ging mein Leben drunter und drüber. Jetzt geht diese Phase langsam zu Ende. Ich bin von meiner zweiten Frau geschieden und diese Scheidung hat mich emotional total leer zurückgelassen. Ich hatte das Gefühl, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn ich nicht da wäre. Ich befand mich auf einer abwärts drehenden Spirale, und ich schätze, ich habe sie inzwischen umgedreht. Als ich schließlich den Nutzen der Arbeit mit dem Gesangslehrer sah und fühlte, wurde alles besser. Ich bin tatsächlich wieder in das Leben hinein gewachsen.“

 

F – Hat der Gedanke an ein neues Album dich dazu motiviert, clean zu bleiben?

 

„Ich bin nicht für die Band clean geworden, sondern für mich selbst. Wenn ich nur nüchtern sein wollte, um bei Depeche Mode zu sein, wäre das nicht dauerhaft. Der einzige Mensch, dem zuliebe ich den Entzug gemacht habe, ist mein Sohn. Dann änderte sich die Lage nach und nach. Eine Weile war da nichts. Ich wollte sogar die Tatsache leugnen, daß ich einen Sohn habe. Das ist das eigentlich schlimme an dieser Krankheit.“

 

F – Gab es während der Produktion von ´Ultra´ eine Zeit, zu der du die Band auflösen wolltest?

 

„Da gab es einige Momente, in denen ich mir sagte, ´Zum Teufel mit diesem Martin! Du singst die Lieder. Mach deine eigene Platte. Nenn sie so wie du willst´. Aber das änderte sich, als Tim zu der Zeit, bevor ich in den Entzug ging, mich in Los Angeles besuchen kam und zu mir sagte, ohne dich gibt es keine Depeche Mode. Er ist auch ein Fan der Band und saß da bei mir und weinte. Er vergoß tatsächlich Tränen. Depeche Mode besteht zum großen Teil aus Martins Songs und aus meiner Stimme. Während der Produktion dieses Albums wurde mir klar, daß es ohne mich Depeche Mode nicht mehr gibt. Bei Bands wie den Rolling Stones oder den Beatles war das dasselbe. Ohne Richards und Jagger gibt es keine Stones, und ohne Lennon und McCartney keine Beatles.“

 

F – Wie habt ihr den Titel dieses Albums gewählt?

 

„Nun, eine ganz neue Band kann ihr erstes Album schlecht ´Ultra´ nennen. Wir sind jedoch wie eine Waschmittelwerbung. Die neuen, verbesserten Depeche Mode. Außerdem gefällt und der Klang des Wortes.“

 

F – Habt ihr wirklich keine Pläne, auf Tour zu gehen?

 

„Nein, es ist zu gefährlich, und außerdem verpaßt man den richtigen Moment, wenn man es zu sehr will. Wir sind nicht Robert Smith und The Cure, die zuerst sagen, wir gehen nicht mehr auf Tour, und es dann doch tun. Wir wollen einfach nächstes Jahr abwarten. Allerdings sind wir eine Band, die gern auf Tour geht. Wir möchten einfach dieses Jahr genießen, und dann darauf zurückblicken und sagen, es war ein Jahr, das Spaß gemacht hat.“

 

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